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Verordnung
über die Inkassohilfe bei familienrechtlichen Unterhaltsansprüchen

(Inkassohilfeverordnung, InkHV)

vom 6. Dezember 2019 (Stand am 1. Januar 2022)

Der Schweizerische Bundesrat,

gestützt auf die Artikel 131 Absatz 2 und 290 Absatz 2 des Zivilgesetzbuchs (ZGB)1,

verordnet:

1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen

Art. 1 Gegenstand

Diese Verordnung regelt die vom Gemeinwesen zu leistende Hilfe bei der Durchsetzung familienrechtlicher Unterhaltsansprüche, wenn die verpflichtete Person die Unterhaltspflicht nicht erfüllt (Inkassohilfe).

Art. 2 Organisation der Inkassohilfe

1 Die Organisation der Inkassohilfe ist Sache der Kantone.

2 Das kantonale Recht bezeichnet mindestens eine Fachstelle, die auf Gesuch hin der Person hilft, die Anspruch auf Unterhaltsbeiträge hat (berechtigte Person).

Art. 3 Gegenstand der Inkassohilfe

1 Die Fachstelle leistet Inkassohilfe für die im Gesuchsmonat fällig werdenden und die zukünftigen Unterhaltsansprüche aus dem Kindesrecht, dem Ehe- und Scheidungsrecht sowie dem Partnerschaftsgesetz vom 18. Juni 20042 (PartG), die in einem Unterhaltstitel festgelegt sind (Unterhaltsbeiträge).

2 Im Zusammenhang mit einem Gesuch nach Absatz 1 leistet sie auch Inkassohilfe für gesetzliche sowie vertraglich oder reglementarisch geregelte Familienzulagen, die vom Unterhaltstitel erfasst sind.

3 Im Zusammenhang mit einem Gesuch nach Absatz 1 kann sie auch Inkassohilfe für vor Einreichung des Gesuchs verfallene Unterhaltsbeiträge und Familienzulagen leisten.

4 Das kantonale Recht kann Inkassohilfe für weitere familienrechtliche Ansprüche vorsehen, insbesondere für Ansprüche:

a.
auf besondere Beiträge für nicht vorhergesehene ausserordentliche Bedürfnisse des Kindes (Art. 286 Abs. 3 ZGB);
b.
der unverheirateten Mutter (Art. 295 ZGB);
c.
auf Verwandtenunterstützung (Art. 328 ZGB).
Art. 4 Unterhaltstitel

Inkassohilfe wird für folgende Unterhaltstitel gewährt:

a.
vollstreckbare Entscheide einer schweizerischen oder ausländischen Behörde;
b.
schriftliche Unterhaltsverträge, die in der Schweiz zur definitiven Rechtsöffnung berechtigen;
c.
schriftliche Unterhaltsverträge betreffend Unterhaltsbeiträge für volljährige Kinder.
Art. 5 Zuständigkeit

1 Zuständig ist die vom kantonalen Recht bezeichnete Fachstelle am Wohnsitz der berechtigten Person.

2 Wechselt die berechtigte Person den Wohnsitz während eines Inkassohilfeverfahrens, so erlischt die Zuständigkeit der Fachstelle am bisherigen Ort.

3 Die Fachstelle bleibt für das Inkasso der bis zum Wechsel des Wohnsitzes verfallenen Unterhaltsbeiträge zuständig. Sie kann hängige Inkassohilfeverfahren mit Zustimmung der neuen Fachstelle auf diese übertragen.

Art. 7 Informationsgesuch an andere Behörden

Die Fachstellen können mit schriftlichem und begründetem Gesuch von anderen kommunalen, kantonalen oder Bundesbehörden kostenlos Informationen erhalten, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgabe benötigen.

2. Abschnitt: Gesuch um Inkassohilfe

Art. 8 Zulässigkeit des Gesuchs

Das Gesuch um Inkassohilfe kann eingereicht werden, sobald der Unterhaltsbeitrag nicht vollständig, nicht rechtzeitig, nicht regelmässig oder überhaupt nicht bezahlt wird.

Art. 9 Inhalt und Form des Gesuchs

1 Das Gesuch um Inkassohilfe muss folgende Angaben und Unterlagen enthalten:

a.
die Personalien der berechtigten Person;
b.
den Unterhaltstitel;
c.
eine Aufstellung der ausstehenden Unterhaltsbeiträge;
d.
die Inkassovollmacht;
e.
die Personalien der verpflichteten Person;
f.
soweit bekannt die Adresse der verpflichteten Person und ihres Arbeitgebers;
g.
Datum und Unterschrift.

2 Die zuständige Fachstelle stellt der gesuchstellenden Person ein Formular zur Verfügung und unterstützt sie bei Bedarf beim Ausfüllen des Formulars.

3 Sie kann von der berechtigten Person jederzeit weitere Angaben und Unterlagen verlangen, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgabe benötigt.

Art. 10 Mitwirkungspflicht der berechtigten Person

1 Die berechtigte Person hat die Fachstelle über alle für die Durchführung der Inkassohilfe erheblichen Umstände zu informieren. Sie muss ihr Änderungen unverzüglich mitteilen.

2 Sie verpflichtet sich, keine eigenen Schritte für das Inkasso der Unterhaltsbeiträge einzuleiten, solange die Inkassohilfe andauert.

3 Verletzt die berechtigte Person ihre Mitwirkungspflicht, so kann die Fachstelle sie schriftlich und durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung auffordern, innerhalb einer bestimmten Frist mitzuwirken. Dabei weist sie die berechtigte Person darauf hin, dass die Verletzung der Mitwirkungspflicht die Abweisung des Gesuchs um Inkassohilfe beziehungsweise deren Einstellung zur Folge haben kann.

3. Abschnitt: Leistungen der Inkassohilfe

Art. 11 Vorgehen der Fachstelle

1 Die Fachstelle bestimmt die im Einzelfall geeigneten Leistungen der Inkassohilfe.

2 Sie versucht, die verpflichtete Person zur Zahlung zu bewegen. Erscheint dies aufgrund der Umstände als aussichtslos, so leitet sie geeignete Massnahmen zur Durchführung der Inkassohilfe ein und prüft die Einleitung strafrechtlicher Schritte.

Art. 12 Leistungen der Fachstelle

1 Die Fachstelle bietet mindestens folgende Leistungen an:

a.
Merkblätter zur Inkassohilfe;
b.
persönliches Beratungsgespräch mit der berechtigten Person;
c.
Aufklärung von volljährigen Kindern über die Möglichkeit, einen vollstreckbaren Entscheid zu erlangen und die unentgeltliche Rechtspflege zu beanspruchen;
d.
Unterstützung bei der Vorbereitung des Gesuchs um Drittauszahlung der Familienzulagen (Art. 9 des Familienzulagengesetzes vom 24. März 20063);
e.
Berechnung der ausstehenden Unterhaltsbeiträge unter Berücksichtigung einer allfälligen Indexierung;
f.
Organisation der Übersetzung des Unterhaltstitels, soweit dies für die Vollstreckung nötig ist;
g.
Lokalisierung der verpflichteten Person, soweit dies ohne unverhältnismässigen Aufwand möglich ist;
h.
Kontaktaufnahme mit der verpflichteten Person;
i.
Mahnung der verpflichteten Person;
j.
Einleitung der geeigneten Massnahmen zur Durchführung der Inkassohilfe, insbesondere:
1.
Zwangsvollstreckung (Art. 67 ff. des Bundesgesetzes vom 11. April 18894 über Schuldbetreibung und Konkurs, SchKG),
2.
Arrest (Art. 271-281 SchKG),
3.
Schuldneranweisung (Art. 132 Abs. 1 und 291 ZGB; Art. 13 Abs. 3 PartG5),
4.
Sicherstellung (Art. 132 Abs. 2 und 292 ZGB);
k.
Entgegennahme und Überwachung der Zahlungen der verpflichteten Person.

2 Sie kann einen Strafantrag wegen Vernachlässigung von Unterhaltspflichten einreichen (Art. 217 des Strafgesetzbuchs6, StGB) oder Anzeige wegen anderer strafbarer Handlungen erstatten, insbesondere wegen:

a.
betrügerischen Konkurses und Pfändungsbetrugs (Art. 163 StGB);
b.
Gläubigerschädigung durch Vermögensminderung (Art. 164 StGB);
c.
Urkundenfälschung (Art. 251 StGB).

3 Sie kann weitere Leistungen anbieten.

Art. 13 Meldungen der Fachstelle an die Vorsorge- oder Freizügigkeitseinrichtung

1 Befindet sich die verpflichtete Person mit regelmässig zu erbringenden Unterhaltsbeiträgen im Umfang von mindestens vier monatlichen Zahlungen in Verzug, so kann die Fachstelle dies der Vorsorge- oder Freizügigkeitseinrichtung der verpflichteten Person melden (Art. 40 des Bundesgesetzes vom 25. Juni 19827 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge, BVG, und Art. 24fbis des Freizügigkeitsgesetzes vom 17. Dezember 19938, FZG).

2 Ist der Fachstelle nicht bekannt, bei welcher Vorsorge- oder Freizügigkeitseinrichtung die verpflichtete Person Vorsorgeguthaben hat, so kann sie diese Information bei der Zentralstelle 2. Säule einholen (Art. 86a Abs. 1 Bst. abis BVG).

3 Werden hängige Inkassohilfeverfahren auf eine neue Fachstelle übertragen (Art. 5 Abs. 3), so meldet die neu zuständige Fachstelle diesen Wechsel der Vorsorge- oder Freizügigkeitseinrichtung der verpflichteten Person.

4 Die Fachstelle widerruft die Meldung an die Vorsorge- oder Freizügigkeitseinrichtung, wenn:

a.
die verpflichtete Person alle Rückstände bezahlt hat und seit einem Jahr regelmässig und vollständig ihrer Unterhaltspflicht nachkommt; oder
b.
die Inkassohilfe eingestellt wird und die Fachstelle davon ausgehen kann, dass sie keine weiteren Massnahmen gegen die verpflichtete Person treffen wird.

5 Die Meldung der verpflichteten Person, die Einholung der dafür notwendigen Informationen, die Meldung des Wechsels der zuständigen Fachstelle und der Widerruf der Meldung erfolgen mit den vom Eidgenössischen Departement des Inneren (EDI) zu diesem Zweck verfassten Formularen9. Den Formularen sind die massgebenden kantonalen und kommunalen Bestimmungen zur Zuständigkeit der Fachstelle beizulegen.

6 Die Meldungen nach den Absätzen 1 und 3 sowie der Widerruf der Meldung nach Absatz 4 werden durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung zugestellt.

7 SR 831.40

8 SR 831.42

9 Die Formulare werden zur Verfügung gestellt auf den Internetseiten des Bundesamtes für Sozialversicherungen (www.bsv.admin.ch) und des Bundesamtes für Justiz (www.bj.admin.ch).

Art. 14 Meldung der Vorsorge- oder Freizügigkeitseinrichtung an die Fachstelle

1 Die Vorsorge- oder Freizügigkeitseinrichtung muss der Fachstelle den Eintritt der Fälligkeit folgender Ansprüche der ihr gemeldeten verpflichteten Person unverzüglich melden:

a.
Auszahlung der Leistung als einmalige Kapitalabfindung in der Höhe von mindestens 1000 Franken;
b.
Barauszahlung nach Artikel 5 FZG10 in der Höhe von mindestens 1000 Franken;
c.
Vorbezug zur Wohneigentumsförderung nach Artikel 30c BVG11 und Artikel 331e des Obligationenrechts12.

2 Sie muss der Fachstelle auch die Verpfändung von Vorsorgeguthaben dieser Person nach Artikel 30b BVG sowie die Pfandverwertung dieses Guthabens melden.

3 Die Meldung erfolgt mit dem vom EDI zu diesem Zweck verfassten Formular13.

4 Sie wird durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung zugestellt.

5 Die Vorsorge- oder Freizügigkeitseinrichtung darf eine Auszahlung nach Absatz 1 frühestens 30 Tage nach Zustellung der Meldung an die Fachstelle vornehmen.

10 SR 831.42

11 SR 831.40

12 SR 220

13 Das Formular wird zur Verfügung gestellt auf den Internetseiten des Bundesamtes für Sozialversicherungen (www.bsv.admin.ch) und des Bundesamtes für Justiz (www.bj.admin.ch).

4. Abschnitt: Anrechnung eingehender Zahlungen bei Teilzahlung

Art. 15

Wird Inkassohilfe sowohl für den Unterhaltsbeitrag als auch für die Familienzulagen geleistet (Art. 3 Abs. 2), so ist eine Teilzahlung vorab auf den Unterhaltsbeitrag anzurechnen.

5. Abschnitt: Einstellung der Inkassohilfe

Art. 16

1 Die Fachstelle stellt die Inkassohilfe in folgenden Fällen ein:

a.
Erlöschen des Unterhaltsanspruchs;
b.
Rückzug des Inkassohilfegesuchs durch die berechtigte Person;
c.
Wechsel des Wohnsitzes der berechtigten Person, wenn dies eine Änderung der Zuständigkeit für die Inkassohilfe zur Folge hat (Art. 5 Abs. 2).

2 Sie kann die Inkassohilfe einstellen, wenn:

a.
die berechtigte Person ihre Mitwirkungspflicht (Art. 10) verletzt;
b.
die Unterhaltsbeiträge uneinbringlich sind, in jedem Fall aber ein Jahr nach dem letzten erfolglosen Inkassoversuch;
c.
die verpflichtete Person seit einem Jahr regelmässig und vollständig ihrer Unterhaltspflicht nachkommt.

3 Im Falle einer Einstellung führt sie die Inkassohilfe für die bis zum Zeitpunkt der Einstellung verfallenen Unterhaltsbeiträge weiter. Überträgt sie im Rahmen eines Wechsels des Wohnsitzes hängige Inkassohilfeverfahren auf die neue Fachstelle (Art. 5 Abs. 3), so stellt sie die Inkassohilfe vollumfänglich ein.

4 Sie erstellt bei Einstellung der Inkassohilfe eine Schlussabrechnung und händigt diese der berechtigten Person aus.

6. Abschnitt: Kosten der Inkassohilfe

Art. 17 Leistungen der Fachstelle

1 Leistungen der Fachstelle zur Inkassohilfe für Unterhaltsbeiträge für Kinder sind unentgeltlich.

2 Leistungen der Fachstelle zur Inkassohilfe für Unterhaltsbeiträge für andere berechtigte Personen sind in der Regel unentgeltlich. Verfügt die berechtigte Person über die erforderlichen Mittel, so kann die Fachstelle von ihr verlangen, sich an den Kosten zu beteiligen.

Art. 18 Leistungen Dritter: Kostenvorschuss

Werden Dritte tätig oder erbringen sie Leistungen für die Durchsetzung der Unterhaltsbeiträge, so werden die anfallenden Kosten, namentlich Betreibungs-, Verfahrens- und Übersetzungskosten, vom Gemeinwesen bevorschusst.

Art. 19 Leistungen Dritter: Kostentragung

1 Werden Dritte tätig oder erbringen sie Leistungen für die Durchsetzung der Unterhaltsbeiträge, so sind die anfallenden Kosten von der verpflichteten Person zu tragen.

2 Können die Kosten nicht von der verpflichteten Person erhältlich gemacht werden, so kann das Gemeinwesen diese der berechtigten Person nur auferlegen, wenn diese über die erforderlichen Mittel verfügt.

7. Abschnitt: Grenzüberschreitende Verhältnisse

Art. 20 Grundsatz

1 In grenzüberschreitenden Fällen wird Inkassohilfe nach Massgabe der anwendbaren Amtshilfeübereinkommen und Gegenseitigkeitserklärungen geleistet.

2 Soweit sich aus den Amtshilfeübereinkommen und Gegenseitigkeitserklärungen oder aus den Artikeln 21 und 22 nichts anderes ergibt, gelten die übrigen Bestimmungen dieser Verordnung sinngemäss.

Art. 21 Zuständigkeiten

1 Die in den Amtshilfeübereinkommen und Gegenseitigkeitserklärungen vorgesehenen Leistungen sind von der vom kantonalen Recht bezeichneten Fachstelle zu erbringen oder zu vermitteln.

2 Übermittlungs- und Empfangsstelle für die Schweiz ist das Bundesamt für Justiz.

3 Für die Inkassohilfe im Rahmen eines Gesuchs aus dem Ausland ist die Fachstelle am Ort des Wohnsitzes oder, bei Fehlen eines schweizerischen Wohnsitzes, am gewöhnlichen Aufenthaltsort der verpflichteten Person zuständig. Hat die verpflichtete Person weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz, so ist die Fachstelle am Ort der vorzunehmenden Massnahme zuständig.

4 Für die Inkassohilfe im Rahmen eines Gesuchs ins Ausland ist die Fachstelle am Wohnsitz oder, bei Fehlen eines schweizerischen Wohnsitzes, am gewöhnlichen Aufenthaltsort der berechtigten Person zuständig.

Art. 22 Kosten der Inkassohilfe

1 Die in den Amtshilfeübereinkommen und Gegenseitigkeitserklärungen vorgesehenen eigenen Leistungen der Fachstelle sind unentgeltlich.

2 Die Artikel 18 und 19 gelten auch für die Errichtung oder Änderung von Unterhaltstiteln, soweit es sich um Gesuche ins Ausland handelt.

8. Abschnitt: Schlussbestimmungen

Art. 23 Übergangsbestimmung

Für Gesuche und Inkassohilfeverfahren, die bei Inkrafttreten dieser Verordnung hängig sind, gilt diese Verordnung ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens.